Dr. Natalia Blum-Barth (Universität Mainz) und Dr. Stefanyia Ptashnyk (Heidelberger Akademie der Wissenschaften) im Gespräch mit Dr. Enikö Dácz (IKGS München).

Die Spannung zwischen der Selbstverständlichkeit der Mehrsprachigkeit im Alltag Österreich-Ungarns und dem ideologischen Beharren auf dem Konzept „Eine Sprache, eine Nation“ liefert bis heute Stoff für Fragen und Diskussionen. Woher kam die Vorstellung, dass sich Nationen über die Sprache definieren und welche Folgen hatte diese Annahme? Was unterschied die Situation in Lemberg von derjenigen in Krakau oder Czernowitz und wie veränderten sich die sprachliche Situation der Städte über die Zeit? Anlässlich des öffentlichen Auftakts des Projekts zur Debatte um Jüdische Nationalsprachen an der Universität Augsburg (Leitung: Prof. Bettina Bannasch/ Prof. Alfred Wildfeuer) diskutierten die Literaturwissenschaftlerin Dr. Natalia Blum-Barth (Universität Mainz) und die Sprachwissenschafterin Dr. Stefaniya Ptashnyk (Heidelberger Akademie der Wissenschaften) über Herders Erbe, Mythos und Realität der Mehrsprachigkeit im Habsburger Reich und die Schwierigkeiten, diese Realität wissenschaftlich zu erfassen.

Projektmitarbeiterin Carmen Reichert betonte in ihrer Einführung, wie unterschiedlich die Städte Galiziens und der Bukowina in den Literaturen und in der Geschichtsschreibung der jeweiligen Sprachgemeinschaften wahrgenommen wurden. Dr. Enikő Dácz (IKGS München) eröffnete die Diskussion mit der Frage nach den Romantisierungen der Mehrsprachigkeit und Multikulturalität. „Begriffe wie ‚Schmelztiegel‘ oder ‚Biotop‘ bergen eine ungeheure Gewalt in sich“, sagte Blum-Barth. Mehrsprachigkeit sei weder als Versuchsstation jenseits monokulturellen Ackerbaus beschreibbar noch als Topf, in dem sich die Identitäten der sich darin Befindenden auflösen.

Wie verbreitet Mehrsprachigkeit – jenseits funktionaler Mehrsprachigkeiten wie etwa der Händler, die ihre Produkte in mehreren Sprachen bezeichnen konnten – tatsächlich war, ist nicht leicht festzustellen. Stefaniya Ptashnyk problematisierte die Tatsache, dass die zeitgenössischen Statistiken über die Sprachzugehörigkeit der Bevölkerung, welche eine wichtige Grundlage für die Erforschung der Mehrsprachigkeit darstellen, vor allem dazu gedacht waren, die „im Alltag gebräuchliche Umgangssprache“ zu ermitteln: „Mehrsprachigkeit war in solchen Umfragen nicht vorgesehen und einige Sprachen, wie zum Beispiel Jiddisch, waren im Fragenkatalog überhaupt nicht enthalten.“ Um diese Frage zu erforschen müsse man andere Quellen hinzuziehen, wie etwa Zeitungstexte, Memoiren, überlieferte Dokumente aus dem Schulwesen etc.

Auch in der Literatur der Zeit finden sich zahlreiche Spuren unterschiedlichen Umgangs mit Mehrsprachigkeit: Wie Natalia Blum-Barth bemerkte, nutze Paul Celan Elemente der hebräischen Grammatik, um deutschsprachige Gedichte zu schreiben und Rose Ausländer integrierte Bilder und Konzepte aus der rumänischsprachigen Bukowiner Literatur.

Die Veranstaltung des Bukowina-Instituts und des Projekts “Die Nationalsprache der Juden oder eine jüdische Sprache? Die Fragen der Czernowitzer Sprachkonferenz in ihrem zeitgeschichtlichen und räumlichen Kontext” an der Universität Augsburg sowie des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas wurde gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Carmen Reichert