© Tobias Weger
Bericht zur zweisprachigen Lesung mit dem rumänischen Schriftsteller Cătălin Mihuleac
Am Abend des 23. Oktober 2019 stellte der rumänische Schriftsteller und Dramatiker Cătălin Mihuleac in einer gut besuchten Lesung seinen Roman Oxenberg & Bernstein (im rumänischen Original: America de peste pogrom) vor. Die Veranstaltung, die in der Münchner Stadtbibliothek Sendling stattfand, war eine Kooperation des IKGS und der Stadtbibliothek. Neben dem 1960 in Iași (dt. Jassy) geborenen Autor, saßen Julia Cortis als Literatursprecherin in Hörfunk und Fernsehen sowie Daniel Biro, Rumänist und Doktorand an der LMU, als Dolmetscher auf der Bühne. Für eine entspannte Atmosphäre sorgte neben den Gästen und dem interessierten Publikum die Moderatorin Dr. Enikő Dácz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IKGS, die nach den Grußworten Cătălin Mihuleac vorstellte. Der Autor studierte zunächst Geologie sowie Wirtschaft an der Alexandru Ioan Cuza Universität in Iași und war ab 1991 Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften und im Rundfunk. Er veröffentlichte satirische Texte in zahlreichen rumänischen Periodika, darunter România literară, Ziarul de Duminică oder Dacia literară; zudem verfasste er Theaterstücke, die in Rumänien oder als Lesetheater im Ausland aufgeführt wurden. Aventurile unui gentleman bolșevic [Die Abenteuer eines bolschevistischen Gentlemans] war sein erstes Buch zu einem historischen Thema.
Der Roman Oxenberg & Bernstein, aus dem die von Julia Cortis vorgetragenen Fragmente das Publikum tief beeindruckten, ist der erste Band eines größeren Projektes, das sich mit dem jüdischen Schicksal in Rumänien auseinandersetzt. Der zweite, Ultima țigară a lui Fondane. Istorii de Holocaust [Die letzte Zigarre von Fondane. Holocaust-Geschichten], ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, und der letzte Teil, Deborah, erschien im Oktober 2019. Mihuleac machte mit großer Leidenschaft einige allgemeine Bemerkungen zu seinem langjährigen Thema, das in Rumänien jahrzehntelang verdrängt wurde: das Pogrom in der nordöstlichen rumänischen Stadt Iași, dem im Juni 1941 mehr als ein Drittel der jüdischen Bevölkerung zum Opfer gefallen war. Oxenberg & Bernstein bearbeitet sorgfältig recherchierte geschichtliche Informationen über das Schicksal der Juden in Iași und besteht aus zwei parallelen Geschichten – die einer nach Amerika ausgewanderten Rumänin, die dort einen jüdischen Geschäftsmann heiratete, und die der jüdischen Familie, in die sie einheiratete. Dazu kommen viele kurze Erzählungen, die sorgfältig konstruiert sind und eine komplexe Symbolik und Motivik aufweisen. Die beiden zentralen Frauenfiguren werden in einem geschickt inszenierten Spiel mit unterschiedlichen Geschichtsebenen und meisterhaft verflochtenen Erzählsträngen dargestellt. Die Bipolarität als Hauptmerkmal des Romans wurde zum wiederkehrenden Thema des anregenden Podiumsgesprächs. In diesem Zusammenhang zitierte der rumänische Autor Anton Tschechow: „Am liebsten erinnern sich die Frauen an die Männer, mit denen sie lachen konnten.“
Mihuleac betonte eindrücklich seine Beziehung zur jüdischen Bevölkerung (unter anderem in Iași) als Basis seines literarischen Interesses. Zudem sei ihm das Potenzial dieses Themas bewusst, worauf auch die intensive Rezeption der deutschen Übertragung von Ernest Wichner, die für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert war, hinweist. Sich auf Vorbilder wie Romain Gary und Marc Chagall beziehend, sprach Mihuleac auch über seine ars poetica und beeindruckte das Publikum mit seiner unverstellten Ehrlichkeit, etwa indem er den schriftstellerischen Werdegang als „Spiel des Schicksals“ bezeichnete. Er schrieb das Buch mit feinem, grenzüberschreitendem Esprit und Ironie, die die notwendige Distanz zwischen Erzähler und handelnden Figuren schaffen.
Der schwarze Humor und die reichlich verwendeten Anglizismen bilden eine aktuelle Sprache ab, die nicht nur den sozialen Status der Sprechenden, sondern auch den Zustand der Gesellschaft widerspiegelt. Mihuleac erläuterte, dass Ironie und Provokationen zur grundsätzlichen Darstellungsweise seiner Romane zählen und Situationskomik in diesem Kontext wesentlich zum langen Leben eines Buchs beitrage. Durch die vorgelesen Fragmente konnte sich das Publikum überzeugen, wie die Melodie des Textes, die unterschiedlichen Sprachregister und der Wechsel zwischen den kürzeren und längeren Sätzen das Buch in einen Mosaik-Roman verwandeln.
Über den Schreibprozess sprechend, gab Mihuleac darüber Auskunft, dass er als Autor während der Entstehung eines Romans sehr intensive, überwältigende und aufreibende Momente erlebe, und obwohl er einen ursprünglichen Schreibplan habe, gerieten die Dinge oftmals außer Kontrolle. Die Hauptfiguren eines Romans erlangten zudem ihre eigenen Seelen, verselbständigten sich und übernähmen danach die Aufgaben des Schriftstellers. Mihuleac vertrat die Ansicht, dass die Seelen der Menschen durch ein literarisches Werk maßgeblich geprägt werden könnten. Mit diesen abschließenden Gedanken und Fragen aus dem Publikum ging die zweisprachige Lesung zu Ende.
Andrei Stolnicu