Ehemaliges Jüdisches Haus in Czernowitz, beherbergt seit 2008 das Jüdische Museum  © Markus Winkler

 

Als Reaktion auf Sonja Margolinas Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung „Spuren der Abwesenheit – Czernowitz ist ein tief ins Unheil des 20. Jahrhunderts eingelassener Ort, in dem schwer sesshaft zu werden ist“, hat IKGS-Direktor Dr. Florian Kührer-Wielach einen Leserbrief verfasst, der in der NZZ vom 15.11.2019 veröffentlicht wurde:

Czernowitz lebt und gedeiht
Sonja Margolina beschreibt Czernowitz in ihrem Gastkommentar vom 7.11.2019 als einen „tief ins Unheil des 20. Jahrhunderts eingelassenen Ort, in dem schwer sesshaft zu werden“ sei. Ihre Skizze rückt eine tendenziell trost- und hoffnungslose ukrainische Gegenwart in den Mittelpunkt. Der „alltägliche Überlebenskampf“ scheint die Einheimischen davon abzuhalten, sich um das Kulturerbe der Stadt zu kümmern.
Tatsächlich ist Czernowitz mit Wunden übersät, die auch nicht vom „vollkommen“ aussehenden, habsburgischen Pflaster überdeckt werden können. Zwischen dem altösterreichischen Czernowitz und Tscherniwzi, wie die Stadt heute genannt wird, liegen Jahrzehnte des erzwungenen Wandels und der totalen Gewalt. Wir sehnen die „untergegangene Kulturmetropole“ (Helmut Braun) herbei und zurück, ein Shangri-La im Karpatenbogen, diesen Parspro-Toto-Prototyp eines halbwegs friedlichen Europas. Doch warum dann ihren Untergang weiterschreiben, warum dieser Pessimismus?
Es sind heute in erster Linie Ukrainer, lokale Einwohner, die nach den „Spuren der Abwesenheit“ suchen und sie uns (zurück)übersetzen: Das jüdische Museum in Czernowitz wird mit Leidenschaft geführt, die Veranstaltungen des Paul-Celan-Literaturzentrums sind äusserst gut besucht, das Meridian-Poesiefestival versammelt eine internationale Literaturszene, und an der Universität widmet sich das „Zentrum Gedankendach“, gerade zehn Jahre alt geworden, zeitgemässen Zugängen zu Kultur und Geschichte der Stadt und der Region.
Mit Mut und Energie wird in Tscherniwzi heute an einer europäischen Zukunft gearbeitet. Diese Art des „Überlebenskampfs“ können wir aber letztlich nur gemeinsam führen, Einheimische, Zugereiste, Ausgewanderte und all jene, die diese Stadt um ihrer selbst willen lieben, wo auch immer auf dieser Welt.

Florian Kührer-Wielach,
Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München