Die Redaktion der Zeitschrift »Zagreber Germanistische Beiträge« lädt Sie zur Einsendung von Beiträgen für das Heft 27/2018 ein.
Dieses widmet sich dem folgenden Themenschwerpunkt: „Schöne Scheiße. Konfigurationen des Skatologischen in Sprache und Literatur“ herausgegeben von Ingo Breuer (Universität Köln) und Svjetlan Lacko Vidulić (Universität Zagreb).
Kaum ein anderer Begriff scheint so ›deutsch‹ zu sein wie der Begriff ›Scheiße‹. Der deutsch-türkische Kabarettist Şinasi Dikmen vermutete sogar, dass »der Arsch in Deutschland wichtiger als der Kopf ist«. Während zum Beispiel in den slawischen und romanischen Sprachen die elaboriertesten Varianten sexualisierten Sprachgebrauchs für pejorative Zwecke eingesetzt werden, scheint die Erforschung des Schimpfwortgebrauchs, die Malediktologie, eine Analfixierung der deutschsprechenden Bevölkerung nachweisen zu können. Entsprechend haben Dieter und Jacqueline Rollfinke in der bisher ausführlichsten germanistischen Untersuchung zur Skatologie eine Verbindung zwischen analem Charakter, übertriebenem Ordnungssinn, Bürokratismus und einer Autoritätsfixierung der ›Deutschen‹ gesehen, die letztlich zum Nationalsozialismus geführt habe. Und entsprechend zeigt dieser Band – neben einem Kapitel über Wilhelm Busch – eine Fokussierung auf die Weimarer Republik und vor allem die Nachkriegszeit. Allerdings geben die Autoren zu, dass auch zahlreiche Autoren anderer Sprachen gerne zu exkrementellen Vokabeln greifen. Die Literatur und Kunst des Mittelalters, der unlängst eine wichtige, inzwischen dokumentierte Tagung an der Universität Bamberg gewidmet war, und der Frühen Neuzeit sind ebenso die nationalen Grenzen überschreitend auf das ›Andere‹ des Körpers, seine Ausscheidungen und Abfallsprodukte fixiert wie die Moderne und Postmoderne mit ihrer Ästhetik des Häßlichen, bis hin zur Abject Art, denen inzwischen bedeutende US-amerikanische Museen skandalumwitterte Ausstellungen widmeten. Überhaupt scheinen die U.S.A. den deutschsprechenden Regionen den Rang ablaufen zu wollen, zumindest im Bereich der Rhetorik: Furore machte das Buch Bullshit des amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt, dessen Titel international weiter variiert wurde, so von Geoffrey James in seinem Bestseller Business without the Bullshit. Selbst der slawische Bereich ist nicht frei davon: Slavoj Žižek reflektierte mehrfach über die kulturelle Bedeutung der Exkremente, die übrigens wohl nicht zufällig auch in die Metaphorik kollektiver Selbstdiagnosen in Südosteuropa Eingang finden. Vladimir Arsenijević hat jüngst die Arbeit an seiner in den 1990er Jahren begonnenen Tetralogie Cloaca Maxima. Eine Seifenoper aufgegriffen, die von den Jugoslawien-Kriegen und den Umbrüchen der 1990er Jahre handelt; einer Zeit, in der sich Dubravka Ugrešić in der Essay-Sammlung My American Fictionary demonstrativ zu einer gemeinsamen Kultur Osteuropas bekannte – dem Status dieser Makroregion als »Scheißhaufen Europas« zum Trotz. Ungeachtet dieser wahrhaft internationalen Popularität des Skatologischen in Sprache und Literatur, in der Kunst und im Film, bleibt Rollfinkes Diagnose von 1986 bestehen, was die wissenschaftliche Forschung betrifft: Essen und Trinken sind seit längerer Zeit ein anerkanntes und inzwischen breit erforschtes Kulturthema, doch sein Gegenstück, die Verdauung und Ausscheidungen, zählen zu den »letzten wahren Tabus«. Dies gilt ebenso für die entsprechenden Körperteile; während bereits der Rückenraum – so Hartmut Böhme – für alles »Überraschende, Schreckhafte, Überfallartige« stehe, sei mehr noch der ›Hintern‹ »mit vielen Tabus und folglich auch mit obszönen Ausdrücken und Lüsten besetzt«; es ist seit dem Mittelalter der prädestinierte Raum alles Teuflischen und Ort des Teufels selbst.
Während sich Sprache, Theater, Literatur und Kunst diesem Tabu ausgiebig angenommen haben, zeigen sich vor allem die neueren Philologien diesem Gegenstand gegenüber meist verhalten. Der eher populärwissenschaftliche, aber überaus aspektreiche und inspirierende Band Dunkle Materie: Die Geschichte der Scheiße, den Florian Werner 2011 vorgelegt hat, bildet eine rühmliche Ausnahme, da er das Spektrum von der Antike bis zur Gegenwart aufspannt; ansonsten ist das Feld bisher reserviert für mediävistische Untersuchungen – siehe z.B. den von Andrea Grafestätter herausgegebenen Sammelband Nahrung, Notdurft und Obszönität in Mittelalter und Frühe Neuzeit von 2013 und Martha Bayless‘ Sin and Filth in Medieval Culture. The Devil in the Latrine von 2012.
Die Diskussionen zur gesellschaftlichen und politischen Funktion, zur kulturellen, künstlerischen und ästhetischen Rolle von Exkrementen haben dagegen breiten Eingang gefunden in Theorien des Häßlichen (Umberto Eco u.a.), des Ekels (Aurel Kolnai, Winfried Menninghaus u.a.) und des Abjekten (Jean Clair, Julia Kristeva, Claudia Reiss u.a.), außerdem in übergreifenden Zusammenhängen (Michail Bachtin, Dominique Laporte u.a.) oder bei verwandten Phänomenen wie dem Kitsch (Milan Kundera), dem Geruch (Alain Corbin), dem Schmutz (Christian Enzensberger) und dem Müll (vgl. das Sonderheft zur ZfdPh 133/2014). Erforscht wurde das Phänomen in der Ethnologie (Sigmund Freud, Claude Lévi-Strauss, Hans Peter Duerr u.a.), Emotionsforschung (vgl. das Lemma ›Disgust‹ im Handbook of Emotions, hg. v. Michael Lewis u.a., 2008) und Biopolitik (Rudolf Otto, Giorgio Agamben u.a.). Zu denken ist nicht zuletzt an Martha Nussbaums Reflexion über die Rolle der Exkremente im Rahmen gesellschaftlicher Ein- und Ausschließungsmechanismen in Form einer Ekelpolitik. Zu bedenken wären aber auch zusätzliche theoretische Kontexte wie die Raumtheorie (zur Topographie des ›stillen Orts‹ und der Orte des Abjekten) und die Agency-Theorie zur Eigenmächtigkeit bzw. Unverfügbarkeit von Objekten.
Besonders Kunst, Literatur und Theater haben sich – von den Philologien oft kaum bemerkt – dieses Themas immer wieder angenommen. Bekanntlich lässt sich – oft auch als Fortschreibung mittelalterlicher Traditionen – in der frühneuzeitlichen Literatur Skatologisches, meist in Form von Fäkalhumor, häufig finden: angefangen bei Schwänken und Satiren über die Fastnachtsspiele und Komödien bis hin zur galanten Literatur. Doch trotz der ›Zivilisierung‹ und der hygienischen Revolution im 18./19. Jahrhundert finden sich selbst zu dieser Zeit noch Beispiele, nicht nur in Goethes berühmtem Zitat aus Götz von Berlichingen oder gar den Werken des Marquis de Sade. Mit der Moderne setzt eine neue und sehr massive Faszination für das Skatologische ein, die heutzutage selbst in TV-Serien und in der Musik (von Pop bis Punk, von Hiphop bis Rap) Einzug gefunden hat.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verursacht Alfred Jarry einen Skandal mit dem ersten, ›falsch‹ geschriebenen Wort seines Stücks König Ubu (»Mrerde«), das unlängst Alina Reyes im feministischen Roman Poupée, anale nationale mit ihrem ersten Wort (»Dieudemerde«) variierte. Auch die deutsche Literatur bietet im 20./21. Jahrhundert wieder zahlreiche Beispiele: in der Moderne und Weimarer Republik (z.B. Benn, B. Brecht, G. Grosz, E. Kästner, T. Mann, u.a.), in der Nachkriegszeit (z.B. Böll, H. M. Enzensberger, G. Grass, S. Lenz und in der Wiener Gruppe) und mehr noch in der neueren und neuesten Literatur, einschließlich der Pop-Literatur (W. Haas, C. Roche, H. Strunk u.a.). Den wohl prominentesten Ort haben Exkremente und Skatologisches in den performativen und intermedialen Künsten gefunden, angefangen bei Friedrich Dürrenmatts Herakles und der Stall des Augias über Werner Schwabs »Fäkaliendramen« bis zum Wiener Aktionismus und anderen Abject Art-Performances. Zu denken wäre auch an andere intermediale Phänomene wie Dieters Roths abjekte Kunstwerke und ›Scheiße-Gedichte‹. Zu denken ist aber auch an Film und Fernsehen, zuletzt mit aller Drastik in TV-Serien wie Bottom oder Jackass, doch schon mit Luis Buñuels Das Gespenst der Freiheit von 1974, John Waters‘ Polyester von 1981 und Herbert Achternbuschs Das Gespenst von 1982 war das Skatologische zumindest im Arthouse-Kino angekommen. Nicht zu übersehen ist darüber hinaus eine Enttabuisierung der Exkremente im Kinderbuch – hier sind die prominentesten Beispiele Der Kackofant von Klaus Cäsar Zehrer/Fil und Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat von Werner Holzwarth/Wolf Erlbruch, das auch verfilmt wurde. Doch nicht nur Exkremente und skatologischer Sprachgebrauch finden sich durchgängig, sondern immer wieder werden auch Objekte im Umfeld des Skatologischen, z.B. das Toilettenpapier (wie in der Schermesser-Episode von Grimmelshausens Simplicissimus) oder der Nachttopf (wie bei E.T.A. Hoffmann), und entsprechende Topographien (z.B. in Peter Handkes Versuch über den stillen Ort) thematisiert.
Zu denken wäre zudem an die Bedeutung skatologischer Terminologie zur Herstellung von ästhetischer Intensität, als Symbol des Todes (bzw. der Angst vor den Exkrementen als Angst vor der eigenen Sterblichkeit) und nicht zuletzt auch als Mittel einer Darstellung des Undarstellbaren, z.B. der Grauen des Kriegs (R. M. Remarque u.a.) und der Shoah (J. Lind, P. Weiss u.a.) – zu denken ist nicht zuletzt auch an Wiesław Kielars Anus mundi, dessen Titel eine Bezeichnung für das Vernichtungslager Auschwitz ›zitiert‹.
Mit dem geplanten Band sollen Lücken in der Erforschung des Skatologischen geschlossen und vor allem neuere wissenschaftliche Diskussionen, z.B. wie sie oben skizziert wurden, in die Reflexion des Gegenstands einbezogen werden. Erwünscht sind vor allem kultur-, literatur- und sprachwissenschaftliche sowie translatorische Beiträge zu skatologischen Werken, Motiven und Aspekten in Literatur und Theater seit der Frühen Neuzeit, einschließlich intermedialer Formen, zum (vergleichenden) Schimpfwortgebrauch sowie zu (auch literarischen) Übersetzungsproblemen bei skatologischen Ausdrücken v.a. im Deutschen und Slawischen, ggf. auch unter Einbeziehung weiterer Sprachen.
Bitte senden Sie für diesen Themenband der »Zagreber germanistischen Beiträge« zunächst bis zum 15. Mai 2017 ein Exposé im Umfang von bis zu 3000 Zeichen sowie einen kurzen Lebenslauf und Publikationsverzeichnis an Dr. Ingo Breuer (breuer-office@gmx.de) und/oder an Dr. Svjetlan Lacko Vidulić (svidulic@ffzg.hr).
Auf der Basis des Exposés werden Herausgeber und Redaktion über eine Annahme entscheiden und ggf. um einen ausformulierten Beitrag von bis zu 50.000 Zeichen (einschließlich Leerzeichen und Fußnoten) bitten, der bis 1. November 2017 bei der Redaktion (zgb@ffzg.hr) einzureichen ist. Über Annahme, Ablehnung oder weiteren Bearbeitungsbedarf wird anonym von zwei unabhängigen Gutachtern befunden.
Hinweise zum Verfahren und zur Einrichtung des Skripts finden sich auf der Homepage der Zeitschrift.